Wie im Himmel, so auf Erden

Susanne Ulbrich, Galerie Kontrapost, Leipzig

Zur Ausstellung „...wie im Himmel so auf Erden“ Mai 2010

 

„Juliane Jüttner, 1972 in Wernigerode geboren, hat schon als Kind den Wunsch, Figuren zu formen. Immer im Blick ein Studium an der Hochschule Burg Giebichenstein Halle – und doch kommt alles ganz anders: sie geht 1992 für ein Jahr nach New York, um an der renommierten Art Students League zu studieren, die mit großen Namen der modernen Kunstgeschichte glänzen kann: Jackson Pollock, Robert Rauschenberg, Roy Lichtenstein, Louise Bourgeois und vielen anderen dieser Kategorie. Hier zeichnet sie Akte, modelliert nach Modell, lernt die Techniken der Kunst. Wie sie sagt, stammt alles, was sie an handwerklichen Fertigkeiten besitzt, aus dieser Zeit in New York.

Zurück in Deutschland beginnt sie 1994 mit dem Studium der Freien Kunst an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Da hier aber die figürliche Plastik – oder überhaupt die Figur in der Kunst – wenig gefragt ist, wechselt sie an die Akademie der Bildenden Künste Prag, um nach einem Jahr akademischen figürlichen Gestaltens an die Kunsthochschule in Braunschweig zurückzukehren.

Nach ihrem Diplom wird sie Meisterschülerin bei Prof. Raimund Kummer, erhält einige Stipendien, die ihr ein freies künstlerisches Arbeiten und eine erneute Studienreise nach New York ermöglichen.

Seit 2004 hat Juliane Jüttner einen Lehrauftrag an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, während ihre Werke auf Ausstellungen präsentiert werden: u.a. im Mönchehaus Museum Goslar, im Kunstverein Hannover, im Kunstverein Wolfenbüttel, in der Kunsthalle Dominikanerkirche Osnabrück – zusammen mit Arbeiten u.a. von Stephan Balkenhol und Volker März – oder in der Oper Leipzig, als nationale und internationale Künstler, darunter Martin Kippenberger, Evelyn Richter und Rosa Loy, ausgewählt werden und die Geste als Körpersprache im Blickpunkt steht.

Parallel zu den neuen Arbeiten für die aktuelle Ausstellung hat sie als Kunstwerk im öffentlichen Raum gerade eine lebensgroße Bronzefigur, den Harzgaugraf Hessi, für den Thalenser Mythenweg im Harz geschaffen. Spektakulär: eine Figur ohne Körper, bestehend nur aus Kopf und Mantel.

Dabei ist Juliane Jüttner so großartig im Bilden des menschlichen Körpers! Im Vortäuschen menschlicher Präsenz, menschlichen Fleisches. Da kommt es tatsächlich vor, dass in einer Ausstellung Blut, Schweiß und Tränen fließen – und nicht etwa beim Publikum.

Der überwältigende Naturalismus ihrer Werke lässt einen glauben, lebendigen Wesen gegenüberzustehen. Erst beim zweiten Anlauf merken wir, dass irgendetwas nicht stimmt. Natürlich: sie entsprechen nicht der realen Größe eines Menschen. Aber auch sonst: da kommen uns einige Dinge bekannt vor, Gesten, Haltungen, Motive. Beim Blick auf das Figurenpaar „Ungläubiger Thomas“ denken wir an Skulpturen der Renaissance. An Michelangelo. An seinen „David“. An sein Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle. Und an manch anderes Gemälde. An den „Ungläubigen Thomas“ von Carravaggio vielleicht.

Tatsächlich ist das Zitieren einzelner Partien wohl bekannter Artefakte der Kunstgeschichte ein stilistisches Mittel der Künstlerin, ohne dabei einem fantasielosen Eklektizismus zu verfallen. Denn sie kopiert nicht komplette Werke oder einen konkreten Stil, sondern wählt einzelne Elemente der im öffentlichen Kunstbewusstsein präsenten Werke aus, um diese zu einem neuen, eigenständigen Gebilde zu montieren bzw. sie in einem solchen zu integrieren. Damit verweist sie einerseits auf die grundsätzliche Eigenschaft von Kunst, immer in irgendeiner Weise die Wirklichkeit abzubilden, zumindest einen Bezug herzustellen, zum anderen aber hinterfragt sie ein Phänomen unserer Zeit, mangels Kreativität auf schon Bewährtes, vielleicht auch Erfolgreiches, zurückzugreifen: Immer wieder werden wir mit den gleichen Bildern im Fernsehen versorgt, auf Titelseiten von Illustrierten, auf Werbeplakaten und Buchumschlägen. Und immer wieder wird Jesus ans Kreuz genagelt, ob in der Kirche, im Wohnzimmer oder an der Halskette. Immer legt irgendwo jemand den Finger in die Wunde (wobei das Letztere ja wirklich in Ordnung ist). Der Festredner verweist auf schon Gesagtes, und in manchen Doktorarbeiten finden sich kaum noch eigene Worte. Eine Welt voller Zitate. Juliane Jüttner macht das Zitieren zum Thema und entwickelt so ihre ganz eigene reflektierende Kunstsprache. Mit kritischem Blick und einem gewissen Abstand zu den Dingen, die sich in der Kunstwelt wie im realen Leben immer wieder ereignen. Dass sie dabei vorrangig auf die christliche Ikonografie zurückgreift, hängt mit den im europäischen Kulturkreis allgegenwärtigen Werken christlicher Kunst und natürlich unserer vermeintlich christlich orientierten Gesellschaft zusammen. Ein bisschen hat es wohl auch mit Caravaggio zu tun, der Ende des 16. Jahrhunderts seine Zeitgenossen durch die Verknüpfung des Sakralen mit dem Profanen äußerst provozierte.

Aber was macht Juliane Jüttner mit diesen Werken, die wir alle schon hundert Mal gesehen haben, zumindest als Reproduktion in einem Bildband?

Unser Blick auf die weißen Figuren konzentriert sich sofort auf die tiefrote, blutende Wunde, die von einer Hand berührt wird, und wir haben augenblicklich die biblische Geschichte vom ungläubigen Thomas im Sinn: der wollte nur glauben, dass Jesus auferstanden war, wenn er selbst seine Hand in dessen Wunde gelegt hat. Und tatsächlich! Jesus trat noch einmal durch die geschlossene Tür zu den versammelten Jüngern, und als ob das allein als Beweis nicht genug wäre, sprach er zu Thomas: „… gib deine Hand her und lege sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ (Joh. 20,27).

Vielfach dargestellt in der Kunstgeschichte thematisiert diese Szene den Gegensatz von Glauben und Wissen. Sicher auch bei Juliane Jüttner, und doch geht ihr Werk darüber hinaus. Thomas scheint in dem tiefen Einstich regelrecht herumzuwühlen, von seiner Hand ist die Hälfte darin versunken. Sein lässiger Kontrapost und sein beinahe gelangweiltes Gesicht stehen im totalen Kontrast zur Handlung: dem Hineingreifen ins offene Fleisch des tot geglaubten Gottessohnes. Keine Spur von Ekel in seinem Gesicht, nicht das geringste Anzeichen von Ergriffensein! Kein bisschen Respekt vor diesem gewaltsam geöffneten Körper! Und Jesus? Mit einem wachen Blick nach vorn wendet er sich von Thomas ab, geht an ihm vorbei, und es könnte sogar sein, dass er – im Gegensatz zum Bibeltext – die neugierige Hand des Thomas fernhalten will.

Beide zusammen ergeben eine wunderbar harmonische Komposition in der Symmetrie des Aufbaus, obwohl als kontrastierendes Paar von Vita contemplativa und Vita activa, von in sich ruhender Position und nach vorn gerichteter Bewegung angelegt. Aber die Harmonie der Komposition ist unvereinbar mit der Tat, mit der wir doch unbeschreiblichen Schmerz assoziieren.

Juliane Jüttner irritiert den Betrachter. Sie hinterfragt unsere Sehgewohnheiten. Sie zwingt zum genauen Hinschauen und provoziert zur Auseinandersetzung: mit tradierten Geschichten und Bildwelten, denen wir inzwischen emotionslos begegnen, weil wir schon so lange darüber Bescheid wissen. Oder glauben zu wissen.

Sie eröffnet neue Perspektiven. Standardisierte Rollen werden neu vergeben. Opfer werden zu Tätern. Süße Putten, die Kinderengel oder Engelskinder – früher nichts als Beiwerk – emanzipieren sich und werden zu Handlungsträgern, werden sogar gewalttätig. Und dann Maria als mageres Mädchen auf Modezeitschriften …

Nicht zuletzt geht es darum, den eigenen Standpunkt zu finden, einen Punkt zum Stehen in diesem Wirrwarr an vorgegebenen Denkmustern und an Ereignissen, die wir aus der Vergangenheit mit uns herumschleppen und denen wir täglich neu ausgesetzt sind – wie Thomas und Jesus, die mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger auf nichts anderes verweisen.“

 

 

Susanne Ulbrich